Mai 242012
 

Da ich mir

(a) vorgenommen habe, jede Woche 2 Posts zu veröffentlichen und ich

(b) diese Woche meine spärlichen Zeitreserven schon an die sehr anspruchsvolle Diskussion des letzten Posts verfeuert habe und ich

(c) sowieso vorhatte, den folgenden Text hier irgend wann einmal zu posten, mache ich das jetzt

Er stammt aus dem großen Werk des taoistischen Philosophen Dschuang Dsi (hier der Wikipedia-Eintrag) „Das wahre Buch vom südlichen Blütenland“. Ohne Zweifel eines der tiefsten Texte, die je geschrieben wurden.

 Buch II, Teil 2

Die Menschen sind verstrickt, hinterlistig, verborgen. Aus Furcht vor kleinen Übeln zittern sie vor Angst; ist Großes zu befürchten, so verheddern sie sich gänzlich. Bald fahren sie zu, wie der Bolzen von der Armbrust schnellt; das nennen sie richten über Recht und Unrecht. Bald verharren sie auf etwas wie auf einem beschworenen Vertrag, das nennt man seine Überlegenheit festhalten.

Unaufhaltsam wie das Sterben im Herbst zehren sie täglich immer mehr ihre Kraft aus. Sie ertrinken in ihren Taten, so dass jede Umkehr für sie unmöglich wird. Sie sind zur Unfreiheit verdammt, wie mit Stricken gebunden; so sind sie eingefahren in ihre alten Geleise.

Und ist das Herz erst dem Tode nahe, so lässt es sich nicht zum lichten Leben wiederbringen.

Lust und Zorn, Trauer und Freude, Sorgen und Seufzer, Unbeständigkeit und Zögern, Genusssucht und Unmäßigkeit, Hingegebensein an die Welt und Hochmut entstehen wie die Töne in hohlen Röhren, wie feuchte Wärme Pilze erzeugt. Tag und Nacht lösen sie einander ab und tauchen auf, ohne dass erkannt wird, wie sie wachsen.

Genug, genug …

Da ist nun der Leib mit all seinen Gliedern und Teilen. Welchem nun soll ich mich am Nächsten fühlen? Ihr alle möchtet es gerne? Dann haben die Teile wohl auch ein Selbst? So sind sie mir gegenüber wie Knechte und Mägde. Aber Knechte und Mägde können einander nicht regieren. Oder besteht bei ihnen ein Verhältnis von Herren und Knechten? Es muss aber wohl noch ein wahrer Herr da sein. Ob man sein Wesen zu ergründen versucht oder nicht, das fördert oder beeinträchtigt nicht die Wahrheit dieser Tatsache. Von dem Zeitpunkt an, da wir eine fest geprägte Form erhalten haben, bleibt er bestehen bis zum Ende.

Aber wenn wir uns mit der Außenwelt beständig ritzen und reiben, so geht das Leben zu Ende, als flögen wir dahin und niemand kann es aufhalten. Ist das nicht traurig? Das ganze Leben sich abmühen, ohne einen fertigen Erfolg zu sehen, sich quälen im erschöpfenden Dienst und nicht wissen, wohin es führt, ist das nicht zu beklagen?

Die Leute reden von Unsterblichkeit, aber was hat das für einen Wert? Wenn der Leib sich auflöst, so wird auch die Seele davon betroffen, ist das nicht aufs Tiefste zu beklagen?

Ist das Menschenleben wirklich so von Dunkel umhüllt, oder bin nur ich allein im Dunkeln?

Und gibt es andere, die nicht im Dunkel sind?“

 Buch II, Teil 5

Und, weil ich gerade in Fahrt bin, noch eine Vorbereitung auf den nächsten Post, ein weiteres Zitat von Dschuang Dsi:

Die Männer des Altertums … nahmen einen Zustand an, da die Existenz der Dinge noch nicht begonnen hatte. … Die nächste Annahme war, dass es zwar Dinge gab, aber ihre Getrenntheit noch nicht begonnen hatte. Die nächste Annahme war, dass es zwar in gewissem Sinn Getrenntheiten gab, aber Bejahung und Verneinung noch nicht begonnen hatte.

Durch die Entfaltung von Bejahung und Verneinung verblasste der WEG. Durch die Verblassung des WEGS entstand einseitige Zuneigung.“

Dann, bis zum nächsten Mal und schöne Pfingsten!

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  3 Responses to “Dschuang Dsi”

  1. Danke dafür, habe es noch nicht gekannt.

    Ich denke, in der hier dargelegten Kürze erschließt sich die Intention des Meisters in Buch II-Teil 2 durch eine Art gegenteilige Umsetzung, die nach meinem Verständnis in etwa wäre:

    „Die Menschen sind geradelinig, ehrlich und offen. Furchtlos kleinen Übeln entgegentretend, erlernen sie ihren Mut; ist Großes zu erwarten, so liegt die Ordnung bereits vor. Weder müssen sie zufahren, wie der Bolzen von der Armbrust schnellt; enthaltsam dem Richten über Recht und Unrecht. Noch müssen sie auf etwas wie einem beschworenen Vertrag verharren, das nennt man seine Unterwürfigkeit anerkennen.

    Unaufhaltsam wie das Aufkeimen im Frühjahr untermauern sie ihre Kraft. Sie erfüllen sich in ihren Taten, so dass es keine Umkehr geben muss. Sie sind in Freiheit entlassen, ungebunden; so stehen ihnen alle neuen Wege offen.

    Und selbst wenn das Herz dem Tode nahe ist, so ist es nicht vom lichten Leben gewichen.

    Hingabe und Sänfte, Erfülltheit und Freude (orig. Euphorie oder Schadenfreude?), Unbesorgtheit und Lachen, Beständigkeit und Entschluss, Freigiebigkeit und Maß, Hingegebensein an Höheres und Edelmut entstehen wie die Klänge eines Orchesters, wie feuchter Hauch Leben erzeugt. Tag und Nacht löst es einander ab und taucht auf, damit erkannt werde, wie es zustande kommt.“

    Genug, genug…

    In Buch II-Teil 5 würde es mich brennend interessieren zu erfahren, wen dieser selbst hochbetagte Meister mit „Männer des Altertums“ bezeichnete… insofern es hier korrekt übersetzt wurde.

    • Bitte verzeihen Sie die sehr, sehr späte Antwort. Ich bin im Moment beruflich so eingespannt, dass ich mich kindlich freue, wenn ich überhaupt noch einen Post zustande bekomme.

      Ich finde Ihre Umkehr von Dschuang Dsi sehr poetisch, wenngleich ich gestehen muss, dass ich nicht ganz genau erkennen kann, worauf sie abzielt. Aber eben das ist ja auch das Kennzeichen der Poesie.

      Die „Männer des Altertums“ sind eine stehende Figur bei den Taoisten. Sie und ihre Gegenposition, der Konfuzianismus, beriefen sich beide darauf, eine goldene, mehr als halb mythologische, Zeit eines früheren China wieder herzustellen, gegen den Verfall und Niedergang, den sie ringsumher sahen. Der Konfuzianismus versuchte dies durch die bewusste Rekonstruktion der Regeln eines guten Gemeinwesens (siehe meinen Post im Basisdiskurs Religion). Der Taoismus behauptete dagegen, dass diese Strategie falsch und sogar unheilvoll sei; je mehr Regeln, desto schlechter der Zustand der Welt und des Menschen. Die „Männer des Altertums“ wären dagegen in ihrer Lebensführung von allen Regeln frei gewesen, hätten eben das Tao, den WEG verfolgt.

  2. Vielen Dank für die Erklärung.

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