Feb 022012
 

Auf dem von mir gern gelesenen Blog Hinter-Gründe hat ein User den Kommentar hinterlassen:

Religionen indoktrinieren die Menschen von klein auf, Religionen sind ein Übel.

Es handelt sich hier um eine Geisteshaltung, die ich den Südkurven-Atheismus nennen würde: Einfache Freund- und Feindbilder und Schlachtgesänge mit einem leicht prolligen Touch. Trotzdem lohnt es sich oft, derartige Aussagen ernst zu nehmen.

Religion als Indoktrination

Hier werden implizit zwei Haltungen gegeneinander ausgespielt: Auf der einen Seite der religiöse Mensch, Opfer einer Indoktrination. Dies ist laut Wikipedia (deutsch) „eine besonders vehemente, keinen Widerspruch und keine Diskussion zulassende Belehrung. Dies geschieht durch gezielte Manipulation von Menschen durch gesteuerte Auswahl von Informationen, um ideologische Absichten durchzusetzen oder Kritik auszuschalten.

Jegliche religiöse Erziehung ist nach dieser Meinung notwendigerweise Indoktrination. Denn einen so manifesten Unsinn wie z.B. das Christentum kann man ja nur glauben, wenn man von klein auf vehement manipuliert, gesteuert informiert, ideologisch verseucht und in seiner Kritikfähigeit amputiert wird. Und deshalb wird der Glaube nur von indoktrinierten Geisteskrüppeln geteilt und deshalb ist er manifester Unsinn. Der Südkurvenatheismus ist voll von solchen Zirkelschlüssen.

Interessant ist aber das Gegenbild. Denn offensichtlich muss es zur gollumartigen Existenzform des Glaubens eine positive Alternative geben. Diese besteht in dem lichten Bild des aufgekärten Menschen unserer westlichen Zivilisation. Aufrecht und autonom steht er in der Welt, wählt und bestimmt seine Überzeugungen und Handlungen nach rationalen Kriterien, die er in einem offenen und kritischen Dialog entwickelt und hinterfragt. Na ja, so ungefähr jedenfalls.

Die große Programmierung

Nein, nicht einmal ungefähr so. Tatsächlich werden wir gesteuert durch eine bewusstlose soziale und vor allem ökonomische Dressur, die unser Handeln bestimmt. Sie ist unsere eigentliche Herrin. Denn wenn unsere Überzeugungen damit kollidieren, treten wir sie entweder in die Tonne oder passen sie an unser Tun an. (Nebenbei bemerkt ist es diese Dressur, die Jesus von Nazareth mit dem Namen „Satan“ belegte.) Unser Selbstbild hat sehr wenig mit unserer Realität zu tun.

Wenn uns vor 20 Jahren jemand prophezeit hätte, dass in naher Zukunft die Banken der Welt reihenweise zusammenkrachen und gleichzeitig der Golf von Mexiko flächen­deckend verseucht würde durch eine gierige Ölfirma: Hätten wir uns vorstellen können, dass unsere Reaktion praktisch Null ist? Dass alles so weiterläuft wie bisher, ohne dass wir unseren gesunden Schlaf verlieren? Hätte das zusammengepasst mit unserem Bild von uns als souveränen und verantwortungsvollen Menschen?

Mehr noch: Natürlich regt uns auch die Tatsache nicht besonders auf, dass die Malediven absaufen, dass mit den Südseeatollen die schönsten Juwelen dieses Planeten ver­schwinden (auch das hätten wir nicht von uns selbst geglaubt). Aber dass wir völlig ungerührt unser Vielflieger-Dasein fortsetzen in dem sicheren Wissen, dass dies so ungefähr die klimaschädlichste Einzelhandlung überhaupt ist, das, denke ich, hätten wir von uns selbst nicht geglaubt.

 

Doktrin vs. Programm

Offensichtlich benötigen wir ein wenig mehr, als was uns im Augenblick zur Verfügung steht. Irgendeine Motivation? Kraftquelle? Irgend etwas in dieser Richtung. Ich selbst glaube, dass sie im Kern des christlichen Glaubens zu finden ist. Aber das ist nicht die Moral dieses Posts.

Vielmehr möchte ich dafür plädieren, dass dieses Etwas, dieses Mehr, im Augenblick zumindest ein Stück weit den Charakter einer Doktrin aufweisen muss. Wenn ich versuche, das Richtige zu tun, dann muss ich mich täglich, stündlich wehren in einem aufreibenden Kampf gegen die vielen „Ja aber“, „Hat doch keinen Sinn“, „Tun ja alle auch“, „ist doch ein bisschen lächerlich als Gutmensch“ usw. Wohlgemerkt, diese Schleifsteine, die uns kleinkriegen, arbeiten sämtlich unter der Oberfläche, stellen sich nicht zur Diskussion sind einfach da und nicht wegzukriegen.

Wenn ich zumindest ein bisschen standhaft bleiben will, muss ich mich ein Stück aus dem Fenster lehnen, dann muss ich an irgend einem Punkt sagen: „So ist es, auch wenn alles dagegen spricht. So handle ich, auch wenn kein Sinn darin zu sehen ist.“ Und das ist dann wohl eine Doktrin. Ich rede, ich höre zu, ich argumentiere. Aber im tiefsten Herzen muss ich einen Kern bewahren, an dem ich weit über jedes vernünftige Maß hinaus keinen Widerspruch und keine Diskussion zulasse.

Religionen sind ein Übel? Vielleicht. Religionen begünstigen Fanatiker, die sich gegen alles Menschliche verschließen? Kann sein, wobei es große Unterschiede zwischen ihnen gibt. Religionen müssen deshalb abgeschafft werden, weil sie gegen den großen Konsens ihrer Umwelt auf ihrer eigenen Denkweise beharren? Deshalb nicht.

Und bevor man daran geht, sie abzuschaffen, sollte man sich zumindest fragen, woher denn sonst der Widerstand gegen die große Programmierung kommen soll. Wenn jede Religion fällt, dann muss hier eine Antwort gefunden werden. Aber woher soll sie kommen?

Der nächste Post trägt den Titel „Und ich?“. Darin schreibe ich über das Recht, sich gegen Moralvorstellungen zu wehren, wenn sie keine Verbindung zur eigenen Existenz vorweisen können. Wenn Sie bei seinem Erscheinen benachrichtigt werden wollen, dann holen Sie sich in der rechten Spalte den RSS-Feed oder abonnieren Sie den Newsletter.

Zur Übersicht

 Hinterlasse eine Antwort

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

(required)

(required)